Gämse – in schwindelnden Höhen unterwegs
Je steiler, desto besser: Gämsen lieben felsiges Gelände und Steilhänge mit einer Neigung von bis zu 60°. Im Winter setzen sie sich auf ihre Hinterläufe und schlittern einfach die Pisten hinunter. Bereits wenige Stunden nach der Geburt folgen Kitze ihrer Mutter in genau dieses Gelände, wo sie als beliebte Beutetiere vor Luchsen, Wölfen oder Bären sicher sind. Einzig der Steinadler kann hier noch den Jungtieren gefährlich werden. Deutlich mehr haben sie jedoch mit den steigenden Temperaturen durch den Klimawandel sowie dem Eindringen des Menschen in ihren Lebensraum, z. B. durch Mountainbike-Fahrer oder Skitouristen, zu kämpfen.
Merkmale
Gämsen (lateinisch: Rupicapra rupicapra) sind ziegenartige Tiere, allerdings etwas größer. Ihr Körper ist kräftig und gedrungen, der Hals lang und schlank, der kurze Kopf wird zur Schnauze hin schmaler. Sie haben spitze Ohren und einen kurzen Schwanz. Im Sommer ist ihr Fell gelbbraun mit einem auffälligen schwarzen Aalstrich auf dem Rücken, im Winter wird es deutlich dunkler. Von den Ohren bis zur Schnauze tragen sie einen dunklen Fellstreifen, die so genannte Gesichtsmaske, an der sie gut zu erkennen sind.
Der so genannte Gamsbart findet sich nicht, wie häufig angenommen, im Gesicht, sondern auf dem Rücken. Die Rückenhaare können bis zu 20 Zentimeter lang werden und werden in der Brunftzeit durch Aufstellen vom Bock genutzt, um seine Attraktivität zu steigern. Beide Geschlechter tragen ganzjährig Hörner, die Krickel oder Krucken genannt und etwa 25 Zentimeter lang werden. Sie werden nicht abgeworfen, wachsen kontinuierlich weiter und es lässt sich an ihnen das ungefähre Alter einer Gämse ablesen.
Die Tiere sind insgesamt perfekt an das Leben im Hochgebirge angepasst. Ihre Beine sind kräftig und lang, die großen Hufe spreizbar mit gummiartigen Sohlen. Damit haben sie in felsigem Gelände eine hohe Trittsicherheit, können mühelos springen und bis zu 50 Kilometer pro Stunde schnell laufen. Ihr Blut weist einen hohen Anteil roter Blutkörperchen auf, so dass ihr Körper auch bei körperlichen Strapazen und in Höhenlagen mit ausreichend Sauerstoff versorgt wird. Ihr Herz leistet ebenfalls einen wichtigen Beitrag: Mit einem hohen Volumen und dickeren Herzmuskel kann es bis zu 200 Mal pro Minute schlagen.
Lebensraum und Nahrung
Wer in den Bergen auf einer Höhe von 1.000 bis 2.500 Metern unterwegs ist, hat gute Chancen, Gämsen zu sehen. Sie bewohnen aber auch tiefer gelegene Wälder ab etwa 400 Metern, wenn das Gelände es zulässt.
In Deutschland gibt es vor allem Bestände in Bayern und den Mittelgebirgen, also z. B. dem Schwarzwald oder der Schwäbischen Alb. In der Regel bleiben sie in ihrem Revier bzw. bewegen sich in einem begrenzten Radius, große Wanderungen finden eher nicht statt.
Je nach Jahreszeit halten sie sich entweder an schattigen und kühleren Nordhängen (Sommer) oder sonnigen und wärmeren Südhängen (Winter) auf. Im Winter zieht es sie oft in besonders steile und exponierte Gelände, wo sie bei dünnerer Schneedecke leichter Nahrung finden. Das Gleiche gilt für steile Bergwälder.
Gämsen sind tagaktiv, da ihr Lebensraum eine gute Sicht erfordert. Sie sind vor allem in den frühen Morgen- und Abendstunden unterwegs, um Futter zu suchen. Als reine Pflanzenfresser ernähren sie sich von dem, was die Jahreszeit hergibt – auch wenn das Angebot dürftig ist: Im Sommer von Gräsern, Kräutern, Flechten, Moosen und Pilzen, im Winter von Laub, Trieben und Knospen von Sträuchern und Nadelbäumen.
Lebensweise und Fortpflanzung
Gämsen gelten als ausgesprochen gesellige Tiere, deren Weibchen und Jungen in Rudeln von etwa 20 Tieren leben. Jedes Rudel wird von einem erwachsenen Weibchen angeführt. Die männlichen Tiere sind meist Einzelgänger und schließen sich im Spätsommer, kurz vor der Brunftzeit im November und Dezember, den Rudeln an und verteidigen ihren Platz gegen Rivalen.
Dabei legen sie ein auffälliges Imponiergehabe an den Tag, indem sie ihren Gamsbart aufrichten, um größer zu wirken. Lässt sich der Rivale nicht abschrecken, wird er auch schon mal kreuz und quer durch felsiges Gelände verjagt. Für die Böcke kann diese Zeit, in der auch häufig der erste Schnee fällt, sehr anstrengend sein.
Nachdem das Weibchen gedeckt ist, trägt es seine Jungen - meist ein oder zwei - etwa 160 bis 190 Tage aus. Nach der Geburt im Mai oder Juni zieht es sich in den ersten Wochen mit dem Nachwuchs zurück und schließt sich danach wieder einem Rudel an. Das Kitz darf so lange bei der Mutter bleiben, bis diese erneut trächtig ist und es nach der Geburt vertreibt.
Gefährdung und Gefahren
Auch wenn sie nicht vom Aussterben bedroht sind, stellt die größte Gefahr für Gämsen der Mensch dar. In Bayern und Baden-Württemberg werden die Tiere intensiv gejagt und genießen keine Schonzeit – nicht einmal zur Tragezeit im Frühjahr.
Gleichzeitig werden ihre Reviere mehr und mehr vom Menschen zur Freizeitgestaltung genutzt, da Skifahrer, Mountainbiker, Paraglider oder Bergsteiger ebenfalls in großen Höhen unterwegs sind. Die Gämsen wandern in tiefere Regionen ab, wo sie einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, abgeschossen zu werden, und hier auf Spaziergänger und Wanderer treffen.
Die Deutsche Wildtierstiftung fordert seit langem Wildruhegebiete, in denen keinerlei Nutzung durch Menschen stattfindet – auch keine Jagd. In vielen europäischen Nachbarländern existieren diese Schutzgebiete bereits.
Der Klimawandel führt immer häufiger auch in höher gelegenen Regionen zu Hitzestress. Weibliche Gämsen reagieren höchst empfindlich darauf und produzieren weniger Milch, so dass die Kitze schlechter versorgt sind. Schwächere Jungen haben jedoch eine deutlich geringere Überlebenschance.