Der Alpenschneehase – Zäher Zeuge der Eiszeit
Der Alpenschneehase ist klein, possierlich, zauberhaft süß – und fast könnte man meinen, er sei ein zartes, angreifbares Wesen. Diesen Eindruck vermittelt vielleicht sein schneeweißes Fell und seine geduckte Gestalt. Doch der Schein trügt: In dem kleinen Kerlchen steckt ein kühner Stratege, der seit der Eiszeit vor 10.000 Jahre beweist, wie man mithilfe von Flexibilität und Anpassung in den kärgsten Regionen überleben kann. Wir staunen und werden ein wenig ehrfürchtig, wenn wir den Effekt von perfekten Schneeschuhen seiner breiten Hinterpfoten erkennen und wenn wir verstehen, wie er die Isolation von Schnee gleich einem Iglu zu nutzen weiß.
Merkmale und Nahrung
Das erste, woran wir bei dem scheuen Alpenbewohner denken, ist sein zauberhaftes weißes Fell. Der Alpenschneehase ist mit genau diesem Fell perfekt an klirrend kalte Winter angepasst. Denn sein Fellkleid ist nicht nur kuschelweich, es dient ihm im Schnee vor allem zur Tarnung vor Greifvögeln. In der atemberaubenden Alpenschneelandschaft ist der gedrungene Überlebenskünstler fast nicht zu erkennen. Schade, nicht wahr, denn er ist so wunderschön anzusehen!
Mit seinem charakteristischen Winterhaar ist der kleine Hase nicht nur gut getarnt, er trotzt auch den harschesten Witterungen. Sein weißes Gewand ist nämlich ideal für die Kälte entwickelt. Es besteht aus feiner, dichter Unterwolle und den längeren Grannenhaaren, die mit Luft gefüllt sind. Auf diese Weise entsteht eine einzigartige Isolation, mit der er den Energieverlust im Vergleich zum Sommerhaar um etwa 25 % reduziert.
Der Alpenschneehase ist für fünf Monate gänzlich weiß. In der Übergangszeit hat er ein weiß-braun geflecktes Fell. Nach dem abgeschlossenen Fellwechsel zum Frühjahr hin macht der Alpenschneehase es uns schwer, ihn vom gemeinen Feldhasen zu unterscheiden, denn er trägt nun leichteres, grau-braunes Fell. Optisch sind Alpenschneehase und Feldhase einander im kurzen Bergsommer ähnlich, wobei der Schneehase kleiner ist und als Energiesparer kürzere Ohren hat.
Im Gegensatz zum Feldhasen hat der Alpenschneehase verbreiterte, stark behaarte Hinterpfoten. Diese sorgen dafür, dass er weniger tief in den Schnee einsinkt. Wenn er beispielsweise vor dem Fuchs fliehen muss, kommt er schneller voran. Die süß wirkenden behaarten und breiten Pfoten erlauben ihm nicht nur ein ideales Vorankommen auf Schnee, sondern garantieren auch besseren Kälteschutz.
Ein winziges Detail macht ihn zusätzlich unverwechselbar und verrät ihn als Bote der Eiszeit auch im Sommer. Seine Blume – so nennt man den kleinen Schwanz des Hasen – ist übers ganze Jahr einheitlich weiß gefärbt.
Allensche Regel, Bergmannsche Regel
Die Allensche Regel besagt, dass in Anpassung an tiefe Temperaturen exponierte Körperteile in Relation zum restlichen Körper kürzer werden. Genau diese Entwicklung können wir an den Ohren und Pfoten unseres vorbildlichen Energiesparers beobachten. Der Alpenschneehase wird bis zu 8 Jahre alt und wiegt zwischen 1,4 und 3,2 Kilogramm. Von Kopf bis Rumpf ist er 50 cm groß.
Unter den Schneehasen ist der Alpenschneehase die kleinste Unterart und bestätigt damit die Bergmannsche Regel. Diese besagt, dass die Tiere in Relation zu ihrer Entfernung vom Äquator kleiner werden. Der Alpenschneehase ist die kleinste Unterart, der skandivische Verwandte ist zum Beispiel deutlich größer.
Lebensraum und weise – Meister der Extreme
Der Alpenschneehase ist leider sehr selten geworden. In Deutschland bewohnt er nur noch einen kleinen Lebensraum. Der zähe Zeuge der Eiszeit kommt heute in den Alpen ab einer Höhe von 1.300 Metern vor. Seine Population ist durch die geographische Lage von anderen Schneehasen abgeschnitten. Unsere Begegnungen mit dem scheuen Bergbewohner sind rar, doch seine Spuren im Schnee sind charakteristisch: neben den kleinen Vorderpfoten liegen die weit größeren Hinterpfoten breit auseinander. Seine langen Borsten dienen ihm als perfekte Schneeschuhe.
Der Meister der Extreme hat sich perfekt an die harschen Wetterverhältnisse angepasst. Mit seiner gedrungenen Gestalt erfüllt er die typischen Merkmale eines Gebirgstiers. In Eiseskälte und bei hohem Schnee nutzt er clevere Strategien zum Überleben. So gräbt sich das Kerlchen ähnlich wie die Schneemaus kleine Höhlen oder lässt sich einschneien. Nur einen engen Luftschacht belässt er für die Sauerstoffzufuhr offen. So nutzt er die dämmenden Eigenschaften des Schnees ideal. Sein erstaunliches Vorgehen funktioniert ganz wie das eines Iglubaus.
Aus strategischen Gründen hat sich der Alpenschneehase auch als nacht- und dämmerungsaktives Tier eingerichtet. Damit beugt er Angriffen durch Beutegreifer wie dem Adler tagsüber vor. In den verschiedenen Jahreszeiten bevorzugt er jeweils andere Gebiete, er wählt seinen Standort nach Deckung und vorhandener Nahrung aus. Im Bereich der Baumgrenze ist er am liebsten, da er dort alpine Weiden sowie Schutz bietende Latschen und Bäume vorfindet.
In der schroffen Alpenlandschaft ist der Schneehase kein Freund großer Worte. In der Tat ist er recht wortkarg. Registriert wurden das Murren und Zähneknirschen als Drohung, ein Quäken bei Angriff von Feinden sowie das Fiepen des Rammlers.
Nahrung
Der Alpenschneehase richtet sich in seiner Nahrungsaufnahme nach dem, was gerade örtlich und nach Saison verfügbar ist. Somit liegt er durchaus im Trend der Zeit. Als friedlicher Vegetarier ernährt er sich von Gräsern und Kräutern, von jungen Trieben, Knospen und Blättern. Er knabbert auch mal an Rinden und freut sich über Zwergsträucher wie über die Alpenrose oder die Heidelbeere.
Das karge, entbehrungsreiche Leben spiegelt sich auch in der Nahrungsgewinnung wieder. Denn zwischen Ruhe- und Nahrungsort werden oft weite Strecken zurückgelegt. Es kommt durchaus vor, dass der kleine Hase von Schlaf- zu Fressplatz bis zu zwei Kilometer mit 200 Metern Höhenunterschied zurücklegt. Man tut was man kann: Dann und wann wurde das kleine Kerlchen auch dabei beobachtet, wie es sich bei Rotwildfütterungen eingeschlichen hat.
Alles wird verwertet
Auch schwer verdauliche Elemente von Pflanzen werden mithilfe von Mikroorganismen im Blinddarm aufgeschlossen und nutzbar gemacht. So kommt es, dass der Alpenschneehase zwei verschiedene Kotarten ausscheidet. Zum einen handelt es sich um harte Kotkugeln, die man beim Spaziergang in den Alpen gelegentlich sieht. Hierin befindet sich hauptsächlich Gras.
Zum anderen scheidet der Schneehase sehr weichen Blinddarmkot aus, den er direkt aus dem Anus wieder abschleckt. Auf diese Weise kann er die Nährstoffe aufnehmen, die durch die Mikroorganismen im Blinddarm bereitgestellt wurden. Die knappe Nahrung wird maximal genutzt. Die Zubereitung und den Genuss dieses Feinschmeckermenüs nennt man übrigens Caecotrophie.
Fortpflanzung
Wie häufig und wie viele Jungtiere bei den Alpenschneehasen auf die Welt kommen – und vor allem überleben - hängt stark von den Witterungsbedingungen ab. In höher gelegenen Alpenregionen werden zwei Würfe mit drei Junghasen registriert, in tiefer gelegenen Gebieten sind es drei Würfe mit jeweils zwei Kindern. Alles gleicht sich also aus.
Die Häsin bringt so genannte Laufjunge auf die Welt. Das bedeutet, dass die Hasenkinder sehend und behaart das Licht der Welt erblicken. Die Mutter sucht sich vor der Geburt einen geschützten Ort in Felsnischen oder Bäumen aus. Die Jungen werden einzeln in Verstecken verteilt und nur einmal in der Nacht von der Mutter besucht und gesäugt, damit Beutegreifer nicht auf die Kleinen aufmerksam werden. So sind die Jungen schon ganz früh auf sich allein gestellt und essen nach neun Tagen bereits erste pflanzliche Nahrung. Nach drei bis sechs Wochen sind sie bereits entwöhnt.
Das Kinderleben in den Alpen ist hart. Innerhalb des ersten Lebensjahres finden nur etwa 20 Prozent der Junghasen die Kraft zu überleben. Es ist daher von äußerster Wichtigkeit, dass wir Wildruhezonen nicht betreten und die Kinderstube in keinem Fall stören.
Eine Besonderheit bei der Paarung ist die doppelte Schwangerschaft der Häsin: bevor die werdende Mutter im Frühjahr ihre Jungen bekommt, findet bereits eine neue Paarung statt. Im kurzen Bergsommer können so im Laufe der Saison mehr Junge zur Welt kommen.
Gefährdung und Geschichte
Der Alpenschneehase hat zahlreiche Feinde. So jagen ihn Füchse, Rabenvögel, Greifvögel und Marder. Doch wir Menschen dürfen ihn glücklicherweise hierzulande nicht bejagen. Für den Alpenschneehasen gilt eine ganzjährige Schonzeit, das Aufsuchen und Jagen des scheuen, gefährdeten Tieres sind Straftaten.
Der fortschreitende Klimawandel macht dem Alpenschneehasen sehr zu schaffen. Ursprünglich perfekt an das alpine Klima angepasst, wandelt sich das Fell des Alpenschneehasen heute immer häufiger zu seinem Nachteil: Fellwechsel und Schneefall passen nicht mehr verlässlich zusammen. So ist der Schneehase gerade in den tieferen Lagen oft bereits weiß, wenn es noch gar nicht geschneit hat. Und wenn der Schnee schon längst geschmolzen ist, kündet sein helles, wärmendes Fell noch immer von der schönen Schneelandschaft. Die Feinde des Hasen haben dann durch die optische Auffälligkeit sehr leichtes Spiel. Was einst als Tarnung gedacht war, wird durch die klimatischen Veränderungen zum traurigen Verhängnis für den ohnehin schon seltenen Alpenschneehasen.
Leider schreitet der Klimawandel zu schnell voran, als dass der Hase sich adäquat anpassen könnte. Und seine weiße Tarnung wird auch in Bezug auf die Erwärmungen von teils mehr als zwei Grad ein massives Problem für ihn. Es wurde festgestellt, dass die Wärme extremen Stress beim Schneehasen verursacht. Das an die harsche Kälte angepasste weiße Fell mit der intensiven Isolation macht dem Hasen zu schaffen, denn bei warmen Außentemperaturen kann die Körperwärme nicht mehr abgeleitet werden. Gerade in tieferen Lagen oder an südlichen Hängen kommt es ohne Möglichkeit der Abkühlung zur Überhitzung. Der Alpenschneehase ist dazu gezwungen, in immer höhere Gebiete auszuweichen.
Ein weiteres Problem ist, dass der Feldhase weiterhin Gebiete erobert und sich durch seine körperliche Überlegenheit beim Kampf um die Nahrung eher durchsetzen kann. Durch das Zusammenleben der beiden kommt es auch zur Paarung, und es entstehen Hybride, eine Mischung zwischen Schnee- und Feldhase. Die Mischlinge sind wiederum fortpflanzungsfähig, so dass der Alpenschneehase, so schneeweiß wie wir ihn kennen, von der neuen Partnerwahl verdrängt werden könnte.
Skigebiete und besonders der Trendsport Tourenski nehmen mehr und mehr die ruhigen alpinen Bereiche ein, die der Alpenschneehase so nötig braucht. Seine Lebensräume werden kleiner und kleiner. Schneehasen meiden Skigebiete und leiden unter erhöhtem Stress in der Nähe von Skifahrern. Dieser Stress hat wiederum Auswirkungen auf das Immunsystem und die Kondition der Hasen. Dies ist nur ein Grund, warum wir Menschen unserer Mitwelt immer mit Respekt begegnen und niemals abseits der ausgeschriebenen Pisten unterwegs sein sollten.
Es ist tragisch, dass dieser genügsame Bote der Eiszeit gerade durch seine so ausgetüftelte Anpassung an harscheste Gebiete nun durch den Klimawandel gefährdet ist. Der Alpenschneehase tut davon Kunde, wie Europa vor 10.000 Jahren von Eis und Schnee geprägt war. Nach dem Ende der Eiszeit blieb er wie andere Tundrabewohner in den Alpen, hielt tapfer durch und prägt nun diese besondere Region. Er hat unseren Schutz verdient, zum Beispiel in Form von Wildschongebieten, wie sie in unseren Nachbarländern bereits realisiert wurden.